Vielleicht kennst du die berühmte Zen-Geschichte, in der dem Zen-Meister in einer japanischen Hafenstadt ein frisch geborenes Kind zugeschrieben wird, weil die junge Mutter, Tochter einer bürgerlichen Familie, nicht zugeben wollte, dass der tatsächliche Vater ein dahergelaufener Matrose war.

Auch wenn am Ende die Angelegenheit geklärt werden konnte – es ging um die brutale Erfahrung, »das Gesicht zu verlieren«. Wir denken vielleicht, das ist altmodisch und in Zeiten von »Face«book und Co. wäre das kein Thema mehr.

Im Gegenteil.

In wohl keinem Zeitraum der Menschheitsgeschichte ist das Spiel mit dem eigenen »Gesicht« leichter und selbstverständlicher geworden wie in unserer Zeit. Wir alle wollen eine bestimmte Story über uns erzählt wissen – und die beginnt schon mit dem Profilbild. Ich schreibe darüber, nicht weil ich das kritisieren möchte, sondern weil es ein spannendes soziales Phänomen ist. Die eigene Show. Das wirklich Interessante ist natürlich, was dahinter versteckt.

Warum ist es so wichtig geworden, ein bestimmtes Bild von uns zu erzeugen, obwohl wir wissen sollten, dass es »so« niemals stimmt? Die erste Antwort: Es ist so leicht geworden wie noch niemals zuvor. Die zweite, vermutlich entscheidende Antwort: Wir sind alle Betrüger, Lügner, Schauspieler, Hochstapler, simulierte Kranke. Ich auch. Aber natürlich werde ich keine Einzelheiten verraten.

Ganz offensichtlich ist das »Gesicht wahren« ein völlig normales Natur-Phänomen. Und das ist gut zu wissen, damit wir nicht in selbstgefällige Heuchelei verfallen. Wir alle haben Ebenen in uns, die wir als sehr persönlich, sehr intim, sehr vertraulich empfinden. Und weil wir damit sehr verletzlich sind, wollen wir sie schützen. Deshalb bauen wir diese Parallelwelten auf. Zum Schutz.

Wenn wir jedoch dieses System, das für das soziale Zusammenleben unvermeidlich zu sein scheint, nicht durchschauen, werden wir zu Puppen. Wir spielen bestimmte Rollen, die wir nicht sind. Im Theater ist das okay. Und jedem Schauspieler (m-w-d 😊) ist das bewusst. Warum sollten wir dieses Konzept nicht übernehmen: Ja, wir spielen Theater, in den unterschiedlichsten Rollen, und es soll möglichst authentisch aussehen. Der gute alte Shakespeare hat das genau beschrieben: »Die Welt ist eine Bühne.« Spätestens jetzt sollte ich das Thema Achtsamkeit einwerfen, damit ich den Anspruch auf meine eigene Show erfülle. Wechseln wir die Bühne: Gesicht wahren heißt, das Gesicht verlieren zu können. Probieren wir das einmal aus: Fratzen schneiden. Im Ernst: Probiere das einmal aus, denn jede unserer denkbaren Rollen hat ein bestimmtes Gesicht. Wenn du traurig schaust oder wenn du lachst. Wenn du wütend bist oder nachdenklich. Wenn du verliebt bist oder enttäuscht. Alle diese Zustände haben ein Gesicht. Welches Gesicht hast du jetzt gerade?
Sorry, ich hoffe du bist allein, wenn du das liest.

Gassho
Paul

P.S.: Dazu passt prima die Übung „Der Löwe“ in der healing formula App.